Die offene Akte – Interview mit Wilhelm Thelen
In der öffentlichen Verwaltung ist die „Offene Akte“ ein in jüngster Zeit kontrovers diskutiertes Thema mir vielen Fragezeichen. Im Gespräch mit Wilhelm Thelen vom Bundesministerium für Gesundheit möchte Zentralblick versuchen, maßgebliche Aspekte aufzuzeigen und einige wesentliche Fragen zu beantworten.
Zentralblick: Sehr geehrter Herr Thelen, warum ist das Thema „Offene Akte“ so aktuell?
Wilhelm Thelen: Die Verwaltung, vor allem auf Bundesebene, befindet sich nach meiner Einschätzung mitten in einem Kulturwandel, bei dem es im Kern darum geht, das Handeln der Verwaltung transparenter und offener zu gestalten. Für die Bundesverwaltung wurde der erste Schritt in diese Richtung im Jahr 2005 mit dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG) gemacht. Es schafft einen voraussetzungslosen Anspruch auf Zugang zu amtlichen Informationen. Das Informationsweiterverwendungsgesetz (IWG) und das Open-Data-Gesetz setzten 2015 und 2017 weitere Wegmarken. Sie begründen erstmals eine gesetzliche Pflicht für die Bundesverwaltung, Verwaltungsdaten zu veröffentlichen, und schaffen die Voraussetzungen für die „bedingungslose“ Weiterverwendung dieser Daten.
Den bislang letzten Schritt markiert der Beitritt Deutschlands zur internationalen Open Government Partnership Initiative (OGP). Die Initiative hat sich zum Ziel gesetzt, die Arbeit von Regierung, Politik und Verwaltung offener, transparenter und partizipativer zu gestalten. Die Mitglieder erstellen zweijährlich nationale Aktionspläne mit Maßnahmen, die an diesen Zielen orientiert sind. Der 2017 von Deutschland vorgelegte 1. Aktionsplan umfasst Einzelmaßnahmen in Form von 15 Verpflichtungen, unter anderen Umsetzung von Open Data in der Verwaltungspraxis und Finanztransparenz.
Zentralblick: Welche Rolle spielt die offene Akte bei diesem „Kulturwandel“?
Wilhelm Thelen: Digitale Informations-, Kommunikations- und Arbeitsmittel schaffen die Voraussetzungen für das Verfügbarmachen und die Nutzung von Wissen in einer völlig neuen Dimension. Die zurecht als „Digitale Revolution“ bezeichnete Entwicklung findet im Bereich der Wissens- und Informationsverbreitung im Internet ihre augenfälligste Ausprägung. Nach der Onlinestudie 2017 von ARD und ZDF nutzen 89,8 % in Deutschland das Internet; 72 % nutzen es täglich. Das Internet ist nicht nur eine „Meinungsbörse“, sondern vor allem auch geteiltes, transparent gemachtes Wissen und Wikipedia ist die Enzyklopädie unserer Zeit.
Der Wissensschatz der Verwaltung liegt in ihren Akten. In ihnen befinden sich die Informationen, die für eine sachgerechte Bearbeitung unentbehrlich sind. Sie reichen vom Rückgriff auf frühere Argumente, Arbeitsergebnisse, Ansätze und Konzepte über die Bereitstellung von abgestimmten Texten, Formulierungen/Wordings bis hin zu Fach- und Expertenwissen oder Prozess- und Methodenwissen. Dieser Informationscharakter der Akte hat für die tägliche Arbeitspraxis einen deutlich höheren Stellenwert, als der aus der gesetzlichen Pflicht erwachsene Nachweis- und Dokumentationscharakter. Die offene Akte ergänzt die Transparenz nach außen um die transparente Verwaltung im Innern. Sie stellt das in den Akten gespeicherte Wissen allen in der Behörde zur Verfügung. Sie ist das Wikipedia der Verwaltung und ein unverzichtbares Kernelement für ein modernes Wissensmanagement in unseren Behörden.
Zentralblick: Eine nette Vision, aber wie verträgt sie sich mit gesetzlichen Vorgaben, z.B. dem Datenschutz, den Anforderungen der Sicherheit oder schlicht der Tatsache, dass Verwaltungsprozesse ggf. der Vertraulichkeit bedürfen?
Wilhelm Thelen: Mit der offenen Akte erfolgt in erster Linie die Umkehrung eines Prinzips. Die traditionelle Papierakte und alle aktuellen Systeme für die elektronische Aktenführung sehen eine prinzipiell „geschlossene Akte“ vor, die nur berechtigten Beschäftigten den Zugriff erlaubt. Im Bedarfsfall (z.B. bei Mitzeichnungs- oder anderen Beteiligungsverfahren) müssen die Zugriffsmöglichkeiten fallbezogen erweitert und natürlich wieder entzogen werden, wenn der Bedarf nicht mehr gegeben ist. Dies erfordert ein systemseitig etabliertes Zugriffsmanagement, dass in der Regel über eine sog. Workflow-Engine oder eine „elektronische Laufmappe“ realisiert wird. Auf die offene Akte haben dagegen alle Beschäftigten Zugriff. Natürlich müssen diese Zugriffsmöglichkeiten eingeschränkt werden können, wenn dies rechtlich erforderlich ist oder aus anderen Gründen „Vertraulichkeit“ hergestellt werden soll. Im Rahmen seines Konzepts für die elektronische Aktenführung, mit dem unter anderen das Prinzip der offenen Akte realisiert wird, hat z.B. das Bundesministerium für Gesundheit folgende Festlegungen getroffen:
- Von der offenen elektronischen Aktenführung sind alle Bereiche ausgenommen, bei denen eine normierte Vertraulichkeit gegeben ist (insbesondere Personalakten und Verschlusssachen). Für die datenschutzrechtlich sensiblen Bereiche Bürgereingaben/-anfragen und Petitionen werden gesonderte Fachverfahren eingerichtet.
- Der Zugriff auf Akten oder Vorgänge kann vollständig oder in Teilen (definierte Bearbeitungszusammenhänge) beschränkt werden (Einstufung als „vertraulich“). Diese Einstufung erfolgt im Rahmen eines organisatorischen Verfahrens, in dem auch die Zugriffsberechtigungen festgelegt werden, und wird (erst) danach im IT-System umgesetzt.
Unabhängig von ihrer bereits dargestellten Bedeutung für ein behördeninternes Wissensmanagement bietet die prinzipiell offene Akte auch große Chancen für effektivere Prozesse. So kann z.B. bei der Bearbeitung von Anträgen nach dem IFG die Aktenrecherche von zentraler Stelle aus erfolgen. Werden darüber hinaus, wie es im Bundesministerium für Gesundheit vorgesehen ist, die Dokumente bei ihrer Veraktung unter Anwendung der maßgeblichen Kriterien des IFG indiziert, hat die zentrale Stelle alle erforderlichen Angaben, um IFG-Anträge sicher und schnell zu bescheiden.
Zentralblick: Welche Änderungen in den Vorschriften zur Aktenführung sind erforderlich, um die offene Akte zu ermöglichen?
Wilhelm Thelen: Es sind keine Änderungen erforderlich, um die offene Akte zu ermöglichen. Nehmen wir zum Beispiel die einschlägigen Regelungen für die Bundesministerien und die Bundesverwaltung. Die Art und Weise der Aktenbildung und -führung stehen weitestgehend im Organisationsermessen der (Bundes-)Behörden. Die Behörde muss dabei sicherstellen, dass die Grundsätze der ordnungsgemäßen Aktenführung eingehalten werden. Diese sollen im Wesentlichen die ordnungsgemäße Dokumentation des Verwaltungshandelns gewährleisten. Die Wahrung der gesetzlich normierten Zugriffsbeschränkungen auf Akten der Bundesverwaltung obliegt dagegen der aktenführenden Stelle. Sie wird in § 5 (1) der Registraturrichtlinie (RegR) als die Organisationseinheit definiert, aus deren Tätigkeit das Schriftgut erwächst. Diese Stelle hat dementsprechend auch die Kompetenz, den Zugriff auf die Akten, die ihr zugeordnet sind, zu regeln. Da das Schriftgut aus der Tätigkeit der Behörde erwächst, kann diese selbst aktenführende Stelle sein und dementsprechend auch die Einführung der offenen Akte in Rahmen ihres Organisationsermessens selbstständig regeln.
Zentralblick: Heißt das, dass jede (Bundes-)Behörde selbst darüber entscheiden kann, ob sie die offene Akte einführt?
Wilhelm Thelen: Ja! Jede (Bundes-)Behörde kann die Entscheidung, ob sie die offene Akte einführt, in eigener Kompetenz treffen.
Anm. d. R.: Wilhelm Thelen ist Experte für Digitalisierung der Verwaltungsarbeit. Am 26. April 2018 wird er beim Seminar „Rechtliche und technische Herausforderungen der Digitalisierung in der öffentlichen Verwaltung“ zum Thema „Handlungsmöglichkeiten für Personalräte aus der Praxis des Bundesministeriums für Gesundheit“ referieren. Mehr Informationen zum Seminarprogramm und zur Anmeldung finden Sie auf der Website der Europäischen Akademie für Steuern, Wirtschaft & Recht.